Dieses Mal: (Dr.) Korinna Zinovia Weber
Toulouse-Le-Mirail, Frankreich
Etwas buchstäblich so großes, so vielschichtiges und scheinbar unnahbares wie Toulouse-Le-Mirail in einem kurzen Beitrag so vorzustellen, dass es seinem ganzen Ausmaß gerecht wird, ist quasi unmöglich. Es ist kein „Haus des Monats“, vielmehr wäre es treffender zu sagen es sei die „Stadt einer Epoche“. Meine erste Begegnung mit Toulouse-Le-Mirail war nicht visuell in Form eines Bildes, sondern in Form von Text. Einer seiner Architekten, Georges Candilis, schreibt über Toulouse-Le-Mirail in seiner Autobiographie „Bauen ist Leben – Ein Architektenreport“ (Krämer, Stuttgart, 1978) und zeichnet mit Worten für den Leser ein unumstritten positives Bild von einer neuen Stadt, die zu ihrer Zeit für nicht weniger als 100.000 Bewohner geplant wurde.
Ein Sprung in den Anfang der 1960er Jahre: die südfranzösische Stadt ist im unbändigen Bevölkerungswachstum nach Ende des Algerienkrieges und den Dezentralisierungs-Maßnahmen der französischen Regierung. Das Trio Candilis-Josic-Woods gewinnt den Wettbewerb zur Errichtung eines „Neuen Toulouse“ im Westen der bestehenden Stadt auf einem Gebiet das „Le Mirail“ genannt wird, okzitanisch für „der Spiegel“. Das Anliegen der Architekten ist es, „den Menschen Bedingungen zu schaffen, unter denen sie in vollständiger Gleichheit in einem Komplex, der für jedermann konzipiert war, miteinander leben konnten“ (1978, S.194) – es grüßt der sozialistische Gedanke, denn u.a. hat Candilis einen politisch links orientierten Hintergrund. Die vier Grundprinzipien des prämierten Entwurfs sind: Vorherrschaft des Fußgängers, Anpassung an die Umgebung, Vermeidung von Monotonie und Ausdruckslosigkeit, Spezifischer Charakter der neuen Stadt.
Begeistert vom Projekt, suchte ich nach Bildern dieses verheißungsvollen Ortes und fand mächtige, graue Betonbauten. Doch anstatt enttäuscht zu sein, begann ich mir Fragen zu stellen: Warum stimmt das positiv vermittelte Bild der Ideen nicht mit der Wahrnehmung der Realität überein? Was ist passiert?
Toulouse-Le-Mirail wurde nie in seinem vollen Umfang realisiert: häufige Änderungen und Kompromisse in der Umsetzung von Seiten der Bauherren durch den neuen Kurs der Lokalpolitik ließen die Kosten explodieren und die Baustelle verzögern. Nötige Infrastrukturen, die die Anbindung an die Altstadt sicherstellen sollten, kamen viel zu spät. Die Wohlhabenden zogen fort, die leerstehenden Wohnungen wurden mit mittellosen Familien gefüllt. Die entstandene Abwärtsspirale ließ die Gegend nach und nach zu einem Ghetto verkommen. Ein Schicksal, das viele Satellitenstädte aus der Zeit teilen. Le Mirail steht schon lange auf der Liste der „sensiblen“ Viertel Frankreichs aufgrund seiner hohen Arbeitslosenquote und der Kriminalitätsrate. Es ist ein verschriener Fleck Erde, der nur freiwillig von denjenigen aufgesucht wird, die dort wohnen oder dort Streife fahren müssen.
Um die sozialen Probleme in den Griff zu bekommen, wird nun die Architektur zur Rechenschaft gezogen: Seit Anfang der 2000er wird in Le Mirail massiv abgerissen. Trotz seiner Schwierigkeiten ist dieser Ort für viele ein sicheres Zuhause mit großzügigen Wohnungen und unfassbar viel Grünfläche vor der Tür. Als ich Le Mirail vor ein paar Jahren das erste Mal besucht habe, fiel mir genau das auf: Es ist eine Stadt im Grünen. Doch wenn man Bilder im Internet sucht, wird einem nur einseitig der graue Beton vorgehalten. Aber Toulouse-Le-Mirail ist so viel mehr als das, was es scheint. Es existiert (noch) und viel wichtiger: es lebt.
zur Person:
Korinna gehörte zu den herausragenden Studentinnen, die ich an der TU München betreuen durfte. Mit Ehrgeiz und Ausdauer hat sie es in ihren jungen Jahren mittlerweile zum Doktor geschafft. Dazu gratulieren wir aus ganzem Herzen.
Unseren Wunsch nach einem größeren „Haus des Monats“ hat sie in ihrem Beitrag wohl recht ernst genommen.
Ihre Schilderungen zu Le Mirail kommen mir aus den Plattenbausiedlungen in Leipzig bekannt vor, die ich in meinem Studium des öfteren besucht hatte. Auch dort wurde die Idee der Architekten nur halbherzig umgesetzt und sogar auf jegliche Gestaltung der Grünanlagen verzichtet. Mit katastrophaler Auswirkung. Dass das nicht immer so sein muss, bestätigt das Olympische Dorf in München als positives Beispiel.
Vielleicht – und darüber sollten Städtebauer und Architekten ernsthaft nachdenken – sind diese Ideen aber auch zu radikal für die Beteiligten und die Umsetzung selbst gewesen. Wer dachte ernsthaft in den 60ern über autofreie Städte nach und hätte dies auch wirklich gewollt – wahrscheinlich nur Candilis selbst. Solche Ideen hat München 30 Jahre später selbst in der Messestadt Riem nicht umsetzen können.
Korinna hält am 11.07. ab 19:00 Uhr in unserem Büro einen kleinen Vortrag, aufbauend auf ihrer Dissertation. Es ist jeder herzlich eingeladen.