Zauberberg
oder
Prießnitz´sche Kuranstalt, Leopold Bauer, Freiwaldau, um 1902
von Thomas Gerstmeir, Juni 2020
Manchmal schwärmten meine Großeltern von der Prießnitz´schen Kuranstalt, wenn sie von ihrer Heimatkreisstadt Freiwaldau sprachen. Gemeint war damit das Sanatorium zu Ehren des Wasserdoktors Vincenc Prießnitz (eine Art österreichisch-schlesischer Kneippdoktor, 1799-1851), über der nordmährischen Stadt im Altvater-Gebirge gelegen. Als Jugendlicher habe ich das als eine eher überzogene Schilderung im Zuge nostalgischer Vergangenheitsbewältigung abgetan.
Doch dann meine erste leibhaftige Begegnung mit dem Ort im letzten Frühherbst. Allein schon die schiere Größe der Anlage überwältigt. Da, im jetzigen „Niemandsland“ an der Grenze zu Polen, oben am Berg, steht ein richtiger Klopper aus dem frühen 20. Jahrhundert in einer grauen Eleganz, der in seiner Eindrücklichkeit den Schilderungen aus unserer Familie in nichts nachsteht.
Weniger die elefantös-graziöse Erscheinung, sondern eher Nutzung und Lage hat mich sofort an das davos´sche Sanatorium aus dem Roman „Zauberberg“ von Thomas Mann erinnert. Natürlich gibt es dort in Davos nichts Elefantöses, eher schweizerische Liebe zum Detail und die für die Schweiz so typische „Verzettelung“. Auch die umliegenden Berge sind in Davos viel höher, schroffer und spitzer. All dies fehlt am Prießnitz-Sanatorium – oder ist zumindest schlicht anders. Die geographische Verortung und die Gebäudetypologie der beiden Häuser entsprechen sich jedoch auf erstaunliche Weise.
Der Architekt der Prießnitz´schen Kuranstalt, Leopold Bauer, studierte bei Otto Wagner in Wien, mit dem er sich, wie mit anscheinend vielen anderen Kollegen, später überwarf. Eine 2018 erschiene Biographie bezeichnet ihn gar als „Häretiker der modernen Architektur“, unterstellt ihm sozusagen „Ketzertum“ gegenüber der Moderne … was der Moderne in Konsequenz religiöse Bedeutung zuschriebe.
Und – ja, sein Kurhaus wirkt durchaus etwas aus der Zeit gefallen. Der real existierende Sozialismus der ČSSR hat dem Gebäude große Wunden erspart – zumindest ist das meine Vermutung. Aus dem Kurpalast der „kranken Reichen aus Wien“ wurde nun ein Spahotel für Patienten mit Sozialversicherung. So sieht man heute Leute in Jogginghosen in der schon zur Entstehungszeit unmodernen und heute noch sehr gut erhaltenen Eingangshalle von Leopold Bauer sitzen.
H&M trifft K&K.
Dieser Verschrobenheit im Altvater-Gebirge wohnt auf jeden Fall ein Zauber inne.