Mai 2019
Dieses Mal: Prof. Gottfried Müller
Wohnhaus in Thalliter
 
Neulich fuhr ich mit dem Bummelzug von Marburg nach Brilon, vom Kurhessischen ins Hochsauerland hinein; entlang der Bahnstrecke gab es nicht viel aufregendes zu entdecken.

Doch südlich von Korbach sah ich am Waldrand ein derart verblüffendes Wohnhaus stehen, dass ich einige Tage später noch einmal hinfuhr um es ausführlicher zu betrachten.

„Le Corbusier meets Satteldach“ war mein erster Gedanke, als ich aus dem Auto stieg, wer das wohl entworfen hat? Gerne hätte ich geklingelt, um die Bewohner zur Baugeschichte zu befragen. Doch aus der Nähe betrachtet wurde schnell deutlich: Dieses Haus hat nie den Zustand der Bewohnbarkeit erreicht. Der ursprüngliche Entwurf dürfte aus den sechziger oder siebziger Jahren stammen, damals wurde vielleicht der Rohbau errichtet. In jüngerer Zeit hatte jemand billige Baumarktfenster und eine scheußliche Haustür eingesetzt, es gab hier und da lustlose Baumaßnahmen ohne jeden Gestaltungsanspruch, doch auch die neueren Eingriffe haben inzwischen Patina angesetzt. Man hat den Eindruck, das Gebäude wurde entnervt aufgegeben, schlummert vor sich hin, einer ungewissen Zukunft entgegen …

Es fällt mir schwer dieses Haus gedanklich zu erfassen, vielleicht deswegen, weil hier radikal Kühnes und völlig Banales so nahe bei einander liegen. Ganz selbstverständlich steht es da in der Landschaft herum und wirkt doch so ungeheuerlich fremd. Wer hatte den Wunsch gehabt, ein derart schweres kompaktes Haus in die Luft zu heben, es vorsätzlich zu entwurzeln? Was für eine Vision vom Wohnen, was für ein Lebensgefühl steckte dahinter? 

Da wollte jemand anders sein als die anderen, auf keinen Fall spießig und provinziell, sondern leicht und frei. Da wollte jemand in einem stationären Luftschiff leben, hat aber seinen Traum nie verwirklichen können. So bleibt dieses Haus bis auf weiteres ein Mahnmal für gescheiterten Eigensinn – es sei denn, eines Tages kommt ein anderer Visionär und erweckt es aus seinem Dornröschenschlaf. 

Prof. Gottfried Müller, Dortmund

Zur Person:

Ich habe mich sehr über Gottfried Müllers Zusage gefreut, dass er einen Beitrag zum „Haus des Monats“ schreibt. Sein Buch „Schwermut und Abenteuer des Hausbaus“ gehört zu meiner persönlichen „Top-Five der Architekturbücher“. Er ist seinem Ruf absolut gerecht geworden und hat diese abgefahrene Hütte gefunden. Wer sein Buch kennt, weiss dass er eine Vorliebe hat für Häuser, die atmen und Geheimnisse haben, die vielleicht unpraktisch und fordernd sind…Sie sollten auf jeden Fall eigensinnig und würdevoll sein…“

Vielen Dank für den tollen Beitrag!

Siniša „Drago“ Inić, München, 29.04.2019

Foto: Gottfried Müller