Kazuo Shinohara, House in Uehara, Tokio 1976
von Tibor Joanelly
Der japanische Architektur-Meister hätte sich wohl gegen ein »Haiku« wie das folgende verwahrt:
Space, a presence –
Lévi-Strauss, Deleuze, Tati, Africa
Protected by a being, a machine!
Aber ich kam nicht umhin, den kurzen und intensiven Moment, den ich in diesem Haus erlebt hatte, damit festzuhalten und auf den einen Impuls hin zu verdichten: Protected by a machine!
Gemeint ist natürlich keine Maschine im eigentlichen Sinn, sondern die von Kazuo Shinohara so genannte Savage Space Machine, die der Architekt in seinen Schriften und Bauten über lange Zeit thematisch verfolgte. Das Konzept entwickelte er aus einer Vermählung von zwei Begriffen des französischen Strukturalismus: dem »Wilden Denken« von Claude Lévi-Strauss und der »Wunschmaschine« von Gilles Deleuze und Félix Guattari. Französische Philosophie erfreute sich im Japan der 1970er Jahre eines kultischen Status, was zu einer Reihe von populären wie freien Übersetzungen und Interpretationen führte.
Shinohara verband mit den beiden Begriffen eigene, gegensätzliche Interessen: seinen von einer Reise nach Afrika geschulten anthropologischen Blick auf die Grossstadt Tokio und die Faszination für das technisch-Maschinenhafte der westlichen Zivilisation. Um letzteres zu veranschaulichen, bediente er sich in seinen Texten verschiedener Metaphern: der Apollo-Mondlandefähre etwa oder dem damals modernsten Kampfflugzeug der US-Navy.
Tatsächlich hat das House in Uehara etwas »maschinenhaft-Wildes«. In seiner Gasse steht es wie eine Mondlandefähre, fremd und in der Grösse auf das Notwendigste reduziert. Der Aspekt der Fremdartigkeit wird durch einen halbtonnenförmigen Aufbau verstärkt, seine zwei Rundfenster erinnern an die »Augen« der moderne Maschinen-Villa in Jacques Tatis Film Mon oncle.
Innen wird die den Raum verstellende Tragstruktur körperlich wie metaphorisch zum schwer durchdringlichen »Dschungel der Grossstadt«. Anlässlich der Besichtigung fühlte ich mich von den riesigen und doch nach menschlichen Massen proportionierten Stützen nahe umgeben, gehalten, begleitet und sogar freundschaftlich bewacht. Dass die Stützen das ganze Haus über zwei Geschosse durchdringen, die trennende Decke nur leicht aus Holz konstruiert ist, macht sie zu einer Art Wesen, die grösser sind als man selbst, vielleicht auch grösser als das Haus, und so wie Atlanten seine Welt zusammenhalten. Bei steter Erdbebengefahr ist das keine leidige Symbolik.
Ähnlich wie ein Haiku wirkt das Haus im Ganzen als eine Sinn-Maschinerie. Zwischen seinen im Ausdruck neutralen Elementen entsteht eine bewegte Spannung, die eine nicht auf diese reduzierbare Bedeutsamkeit erzeugt. Diese wiederum bleibt im Haus für verschiedene Nutzer oder Betrachterinnen nachvollziehbar, ganz im Gegensatz zum heute in der Architektur verbreiteten, flüchtigen Atmosphärischen: Das körperliche »Moment« des Raums wird beim Durchschreiten stets ähnlich physisch erlebt. Es kann so auch phänomenal beschrieben werden.
Haiku wie Haus werden in ihrer Wahrnehmung – oder auch: in ihrer Funktionsweise – zu Mechanismen mit eigenem »Antrieb«, sodass man geradezu auch von Subjekten sprechen könnte. Hier im Westen würde man sagen, dass sie einer eigenen Poiesis folgen. –
Tibor Joanelly, Oktober 2017
zur Person:
Ich würde Tibor als Architekturjournalist bezeichnen, der mit der wertvollen Begabung gesegnet ist, Erlebnisse mit Architektur fundiert und zugleich hingerissen beschreiben zu können. Ein Musiktheoretiker hat über den kanadischen, nicht unumstrittenen Ausnahmepianisten Glenn Gould mal gesagt, er spiele wie in einem „nüchternen Rausch“. In meiner Wahrnehmung ist dieses Oxymoron ein bisschen auch auf Tibor anwendbar.
Auch auf das beschriebene Haus passt dieser Widerspruch. Dass Architektur sich mit Ihren Elementen auch mal aufdrängen darf und nicht aus ideologischen Gründen stets wegdetailiert werden muss, ist hiermit wohl bewiesen. Gefühlt habe ich das schon immer … jetzt ist es auch formuliert worden. Danke Tibor, du sprichst uns aus der Seele.
Tibor ist ein Hauptredakteur der „werk, bauen + wohnen“. Die letzte Ausgabe über München – und nicht nur diese – ist auf alle Fälle für viele „nüchterne Rauscherlebnisse“ gut.
Thomas Gerstmeir, Oktober 2017