dieses mal: Eugen Happacher
Nuovo Corviale
Eine Atmosphäre der besonderen Art herrscht in Arvalia Portuense. Dieser Stadtteil Roms liegt auf einem Hügel am südwestlichen Rand der Stadt. Östlich davon zieht sich Rom bis über den Tiber hinaus zum Horizont hin. Nach Westen endet genau hier die Metropole und gewährt dem Besucher einen Blick auf die latinische Hügellandschaft. Ob man bei schönem Wetter von hier bis nach Ostia und zum Meer blicken kann?
Als ich vor zwei Jahren an diesem Ort stand konnte man das Mittelmeer nicht erblicken. Der Himmel war wolkenverhangen und die Straßen menschenleer. Vor mir erhob sich ein gewaltiges Bauwerk: das Nuovo Corviale. Dieser fast ein Kilometer lange, zehn geschossige Wohnbauriegel thront in Nord-Süd Richtung auf der Hügelkuppe von Arvalia Portuense und stellt damit eines der längsten Hochhäuser Europas dar. „Il Serpentone“ – „die große Schlange“ wie es die Römer nennen – wurde zwischen 1975 und 1982 nach den Plänen von Architekt Mario Fiorentino erbaut. Als Auftraggeber fungierte die Wohnungsbaugesellschaft ATER (Azienda Territoriale per l’Edilizia Residenziale), welche mit dem Bauwerk die städtebaulichen Leitbilder der CIAM verfolgten und so ein Gebäude erschuf indem eine größere Anzahl von Wohneinheiten in einem gigantischen Komplex im Grünen zusammengefasst wurde. Mit diesem prototypischen Siedlungsschema sollte einerseits der Landschaftszersiedelung entgegengewirkt und andererseits zu enge und schlecht durchlüftete Stadtlandschaften vermieden werden.
Das Nuovo Corviale ist für mich eine kompromisslose Utopie, ein Produkt der Nachkriegszeit und eine Verkörperung der Visionen von Archigram und Superstudio. Dieser Wohnungsbau stellt ohne Zweifel ein soziales Experiment dar, das mit Architektur die gesellschaftlichen Grenzen des Zusammenlebens auslotet. Die Radikalität mit der das Nuovo Corviale für seine Idee einsteht ist beeindruckend und wahrscheinlich liegt deshalb an diesem Ort auch etwas Ehrfürchtiges, zugleich aber auch etwas Trostloses in der Luft. Heute ist das Gebäude teils verlassen und stark sanierungsbedürftig. Die Fassade bröckelt und Klingelschilder wurden herausgebrochen. So wirklich hat dieses Experiment wohl nie funktioniert.
Trotzdem ist es zurzeit unablässig das Nuovo Corviale und andere radikale Beispiele aus dem Wohnungsbau in ihren Kontext zu stellen und genau zu analysieren, um zu verstehen welche neuen Visionen und Utopien unsere Gesellschaft gerade heute braucht.
Text und Foto: Eugen Happacher
zur Person:
Eugen Happacher hat an der Akademie der Bildenden Künste in München Innenarchitektur und an der Bauhaus-Universität in Weimar Architektur studiert.
Er hat unter anderem bei Peter Haimerl gearbeitet und sich da vor allem beim Umbau des Penzkofferhauses in Viechtach und der Erweiterung des Bleibacher Bürgerhauses eingebracht. Eugen Happacher hat bereits ein Einfamilienhaus eigenständig geplant und umgesetzt.
Zusammen mit Studienkollegen konnte er beim Wettbewerb „Freihampton“, ausgelobt von der Kooperative Großstadt“, mit einem wunderbaren Beitrag den 4. Platz holen.
Seit dem Frühjahr 2020 arbeitet der Südtiroler bei mir im Büro und bringt sein feines Gespür für Räume, Fassaden, Proportionen und Details in den alltäglichen Diskurs mit ein. Nachdem mir die Zeit selbst zu entwerfen immer mehr fehlt werden meine Skizzen und Ansagen wo ich gern hinwollte immer dürftiger. Hier zeigt sich Eugens wichtigstes Talent: Er weiß genau was mir vorschwebt!
Max Otto Zitzelsberger, 25.10.2020