Carmen Wolf
Au revoir Augustenstraße 103
Es ist verschwunden, das kleine, absurde und doch so ausstrahlungsstarke Halbgiebelhaus in der Augustenstraße 103. Es bestand aus einem riesigen Dachstuhl, etwa 6m breit, mit drei unterschiedlich großen, direkt übereinanderliegenden Gauben und einem langen, eingeschossigen Vorbau. Ich mochte das unorthodox Konventionelle, das selbstverständlich Gewachsene, das skurril Schöne an diesem Gebäude.
Bei dem Gedanken an das, was war und was werden könnte, fällt mir Odo Marquard ein. In Zukunft braucht Herkunft reflektiert er über „Üblichkeiten“ und Neuerungen.
Bewegt sich nicht alles zwischen diesen beiden Polen? Übertragen auf die Architektur könnten Marquards Philosophische Essays aus dem Jahr 2003 ein Aufruf sein, aus dem, was war oder ist zu schöpfen, um Neues zu schaffen. Neues, das zu uns passt und doch irgendwie andersartig ist. Etwas, das sich einfügt und doch eigenständig ist. Architektur sollte die Vielfalt im Ganzen suchen, den feinen Unterschied kultivieren – einfach und selbstverständlich, sinnlich und mit Poesie erfüllt.
In diesem Sinne bin ich neugierig, was in der Augustenstraße 103 entstehen wird.
Carmen Wolf, CARMENWOLF Architekturbüro
zur Person:
Bereits im ersten Jahr ( siehe dazu Beitrag JUNI 2015 ) dieser Kolumne hat Carmen dieses Häuschen beschrieben, dass damals noch stand. Wenn ich ehrlich bin, hat mich seine Zähigkeit und der Überlebenswillen zwischen den großen Wohnbebauungen aus der Nachkriegszeit immer schon imponiert.
Nun denn, jetzt ist es soweit: Unser erster Nachruf! Und für diesen und der reinen Dokumentation wegen hat sich die Kolumne gelohnt.
Wir danken Carmen für Ihren 2. Beitrag. Und wünschen Ihr, dass Ihre Hoffnungen auf das Entstehende nicht enttäuscht werden. Bei dem hohen Anspruchs und ihrem Talent, ist wohl eine Enttäuschung nicht unwahrscheinlich. Aber wer weiß: think positiv!
Thomas Gerstmeir, 31.08.2020