Haus des Monats März 2018
von Merian Teutsch
Haus in Litauen
Eine 6 Kilometer lange Schotterstraße führt zu dem Anwesen irgendwo im litauischen Nirgendwo. Sie mündet auf eine größere Schotterstraße und von dort sind es noch weitere 4 Kilometer bis zur nächsten geteerten Straße. Das Anwesen ist klein und besteht im Wesentlichen aus zwei Blockhäusern, die von drei Parteien bewohnt werden. Einige Schuppen, Gärten für Gemüse und Obstbäume sowie Ställe für Kaninchen, Federvieh, Schweine und Hunde ergänzen das Bild. Das kleine Blockhaus besteht nur aus einem Raum – Wohnzimmer, Küche und Schlafzimmer in einem. Das etwas größere Blockhaus teilen sich zwei Parteien und hat auch zwei separate Eingänge. Meine Familie und ich sind in dem größeren Haus untergebracht. Der Geruch ist penetrant und beißend. Mit der Zeit gewöhnt man sich daran, aber ich frage mich wie lange einem dieser Geruch anhaftet, trotz gründlichem Waschens. Wir machen hier Urlaub, bei einer Cousine meiner Frau. Sie hat hier oft ihre Ferien in ihrer Kindheit verbracht und so viel hat sich hier seit dem nicht verändert, meint sie. Nur dass es jetzt WLAN gibt – theoretisch, denn meistens ist es nicht möglich damit eine Verbindung zum Internet herzustellen. Strom gibt es auch in dem in drei Zimmer aufgeteilten Bereich des Hauses. Fließend Wasser hingegen nicht. Das bedeutet, dass keine Küche, kein Bad und auch keine Toilette vorhanden sind. Um seine Notdurft zu verrichten geht man zu einem etwas von dem Anwesen entfernten Plumpsklo, was im Wesentlichen aus einem Loch im Boden besteht. Ich merke wie ich durch akribische Planung meine Toilettengänge zu minimieren versuche, vor allem der nächtliche muss unter allen Umständen vermieden werden. Neben dem Blockhaus steht ein kleiner Schuppen in dem die Küche untergebracht ist. Dort gibt es auch Wasser aus der Leitung. Das gab es früher noch nicht, erzählt mir meine Frau. Da musste man noch runter zum Fluss gehen, um Wasser zu holen. Heute ist das Wasser, dass aus der Leitung kommt nur kalt. Wer warmes Wasser benötigt, macht es sich im Wasserkocher warm. Wer sich waschen will, macht dies auch in dieser Küche mit Hilfe einer Schüssel. Man steht nackt zwischen Spüle und Esstisch und hofft, dass niemand rein kommt. Jetzt verstehe ich auch, dass die gründliche, tägliche Körperreinigung an Relevanz verliert. Ein bisschen weniger tut es auch mal. Es ist ruhig dort, kein Autolärm, keine Flugzeuge, keine Musik. Alles ist sehr einfach und natürlich. Es ist schön. Meine Gedanken können viel höher fliegen als ich es gewohnt bin, da sie nicht ständig von irgend etwas abgelenkt werden. Ich stelle mir die Frage, was ich zum Leben brauche? Meine Verwandten, die hier leben, sind sehr viel mit Dingen beschäftigt, für die ich zuhause kaum Zeit investieren muss. Dafür gebe ich Geld aus – im Laden, auf Amazon, im Restaurant. Ich stelle mich einfach unter die Dusche oder drehe die Heizung hoch. Aber was gewinne ich dadurch? Macht es mich glücklicher? Wieder zuhause angekommen bin ich natürlich froh über all die Annehmlichkeiten, die mir mein zuhause bietet. Die Fragen aber sind geblieben. Welche Bedürfnisse habe ich wirklich und welche sind nur gesellschaftlich anerzogen? Was erwarte ich von meinem Zuhause und dem Haus in dem ich lebe? Wann ist ein Haus ein Haus?
Merian Teutsch, Februar 2018
zur Person: Merian gehört zu meinen längsten und besten Freunden und trägt – immer wieder erstaunlich – die Berufsbezeichnung Diplom-Künstler. Solch bürokratische Auswüchse wie diese Bezeichnung fehlten bei dem Haus aus Litauen offensichtlich – Gott sei Dank. Allein das Fehlen von – uns bereits selbstverständlichen und durch Normismen erzwungenen – Annehmlichkeiten bringt ihn zum Grübeln. Auf seine Fragen kann ich keine Antwort geben, aber eins weiß ich sicher: Häuser werden durch hohe Ausstattungsdichte und der blossen Tatsache neu zu sein, nicht zur Architektur oder gar zur besseren Architektur.
Thomas Gerstmeir, Februar 2018