dieses mal: Khaled Mostafa
Orpheus und Eurydike
Einige Jahre nachdem die meisten deutschen Städte sich vom langjährigen Wiederaufbau erholten, herrschte in vielen Städten eine „positive“ Aufbruchsstimmung. Vor allem spürte man diese Euphorie in München in Form von zahlreichen und ambitionierten Bauprojekten, die in dieser Zeit entstanden. Der Spiegel betitelt München in seiner Ausgabe von 1966 „Deutschlands heimliche Hauptstadt“. Die Entscheidung die Olympischen Spiele 1972 in München verorten, brachte mit sich die Entstehung des Olympischen Dorfs, einer der wichtigsten Großwohnsiedlungsprojekte der 1970er Jahre. Kurz darauf entstand in derselben Bauekstase der 70er Jahre vom Schweizer Architekten Justus Dahinden das berühmte Schwabylon. Mit seiner farbenfrohen Fassadengestaltung und einer aufgemalten aufgehenden Sonne, sollte das erstmalig in München entstandene Einkaufs- und Vergnügenszentrum der Stadt ein neues und einzigartiges Konsumerlebnis anbieten. In diesem Zusammenhang veranlasste man den Bau eines unterirdischen dreistöckigen Clubs das „Yellow Submarine“, welches wie ein Unterseeboot in die Erde eingegraben wurde und in aller Grausamkeit von einem dem Club umliegenden Wassertank mit Haifischen und Schildkröten profitieren sollte. Wenige Hundertmeter vom Schwabylon entstand das nach aufwendiger Sanierungsarbeiten bis heute erhaltene „Tantris“ Restaurant.
Überschwemmt von Attraktionswahnsinn und aufbrechender sozialer und kultureller Ambitionen entstanden im Münchner Norden ebenso ein bedeutsames Bauprojekt, welches allerdings vielmehr subtilen Getümmel verursachte. Im Schatten des schlichten Riegelbaus des Ungererbads ragt das Hochhaus des zweiteiligen Gebäudeensembles Orpheus und Eurydike an der Ungererstraße heraus. Ein Anblick der im unspektakulären Münchner Norden zum Nachdenken anstößt. Der Gebäudekomplex wurde nach den Plänen der Architektengemeinschaft Jürgen von Gagern, Peter Ludwig und Udo von der Mühlen 1973 gebaut. Umgeben von bescheidener Architektur setzen sich die zwei Gebäudeteile der Orpheus und Eurydike Anlage stark von ihren Nachbarn ab. Kommt man der Anlage näher und betrachtet diese von verschiedenen Straßenfluchten, fallen weitere Besonderheiten auf. Dem 13-geschossigen Hochhaus ist eine Tankstelle vorgelagert. Die Autowaschanlage und einige andere gewerbliche Nutzungen befinden sich im Erdgeschoss des Hochhauses, eine im Sinne heutiger Baunormen unübliche Nutzungsmischung, die allerdings ein wichtiger Bestandteil für die farbliche Gestaltung des Gebäudeensembles war. Dem Hochhaus zurückversetzt wurde der zweite Gebäudeteil der Anlage „Eurydike“ niedriger und aufgelockerter konzipiert. Der freistehende Erschließungsturm wurde mittig zwischen den leicht zueinander geneigten Gebäudeflügeln positioniert. Die farbliche Gestaltung der einzelnen Bauteile des Treppenturmes und der Verbindungsbrücken in Orange, Gelb und Pastelgrün fördern weiterhin diesen unkonventionellen Anblick. Im Eingangsbereich wird man mit einer orange- und gelbfarbigen Klingelschildanlage mit einem schablonennartigen Schriftzug „Eurydike“ konfrontiert. Der Empfangsraum erinnert vielmehr an einem Filmstill aus einer Wes-Anderson Szene. An der Fassade der Eurydike erkennt man die prinzipielle Grundrisskonfiguration. Die ineinander verschränkten Maisonettewohnungen strecken sich über zwei Geschosse und drücken sich auf beiden Fassadenseiten durch die vorspringenden Balkone ähnlich aus, eine Besonderheit, die das Gebäude sein Alleinstellungsmerkmal verleiht.
Ordnet man das Gebäudeensemble geschichtlich ein, so versteht man die Courage und Experimentierfreude mit der man diese und ähnliche Bauaufgaben bewältigte. In einigen Momenten musste ich an der Wohnsiedlung „Les Schtroumpf“ von Christian Hunziger, Robert Frei und Georges Berthoud in Genf denken. Mit ähnlichem Avantgarde hat man vielerorts groteske Architekturen geschaffen, die nicht den damaligen Strömungen unterlagen und oft aus dem kollektiven Gedächtnis ausgefallen sind.
Zu Person und Beitrag:
Was finden heute Leute wichtig, die sich eine Wohnung kaufen oder diese bauen lassen? Aus meinen Erfahrungen: Dass der Beamer ohne Verlängerungskabel anschließbar ist. Dass beim Abtauchen in die nicht wegzudenkende Tiefgarage die Schnur vom Schlüsselschalter auf der richtigen Höhe hängt. Dass die Ecken im Aufzugsbereich mit Edelstahl vor Schrammen geschützt werden. Eine ernsthafte Vision der Bewohner und Benutzer von einem Zusammenleben, wie es bei vielen Projekten der 70er die Grundidee war, kann man heute nur herbeisehnen. Man denke z.B. an die Projekte von Atelier 5.
Leider treibt heute der reine Egozentrismus die Leute bei der Bestellung einer Wohnung an. Von der finanziellen Teilhabe am Betongoldrausch bis hin zu der Idee der 100%-igen Schall- und Lichtisolierung und somit der hermetischen Abriegelung von Nachbarn und Umwelt. Der Balkon ist jedoch obligatorisch und sei es zur Landshuter Allee hin. Ist mit erhöhtem Verkehrsaufkommen zu rechnen, gibt es Regelungen, die öffenbare Fenster verbieten. Reine Symptombehandlung ist angesagt. Im Grunde geht eigentlich nur noch ein Einfamilienhaus ohne Fenster (das beste Fenster in Deutschland ist leider immer noch kein Fenster, frei nach dem Motto: kein Fenster, keine Probleme) mit dicken Betonwänden und möglichst billiger dicker Wärmedämmung. Nur die Justiz kann in Deutschland die Bewohner einer Stadt davon „überzeugen“, dass Kindergeschrei beim Spielen im Hof kein Lärm ist, wie dies bei Autos undiskutiert genauso gemeinschaftlich gesehen wird. (Momentmal: Weniger und kleinere Autos mit weichen Stoßpolstern und max. 20 km/h: vielleicht könnten die Kinder dann ja überall spielen – ne, zu progressiv, fast naiv, sorry for that, es ging mit mir durch).
Lieblingsstreit ist wohl die Walnuss an der Grundstücksgrenze: da könnten ja Blätter auf die Gabionen aus dem Baumarkt fallen. Gerade die Blätter der Walnuss schmutzen ja so sehr.
Im Grunde ist die Einstellung mancher Wohnungserwerber als reine Natur- und Mitmenschenfeindlichkeit auszulegen. So verwundert es nicht, dass Ideen von Gemeinschaftsräumen als schlicht naiv belächelt und sowieso als nicht umsetzbar betrachtet werden.
Natürlich gibt es Ausnahmen. Sehr gute sogar. „Wagnis“ oder die „Kooperative Grossstadt“, um nur Münchner Beispiele zu nennen – bei denen beileibe leider auch nicht alles funktioniert. Und es gibt so junge Kollegen wie Khaled, der mit einem fundiertem und herrlich kritischen Beitrag über ein Haus, dass „man eigentlich kennt“, zumindest bei mir viel bewegt hat.