dieses Mal Thomas Gerstmeir
Eckhaus Untere Bahnhofstraße 55, Germering

Germering ist nicht unbedingt ein Hotspot für Architekturexkursionen. Dabei kann die Großgemeinde, wie sie sich selbst gerne nennt, in eine sehr spezielle Gruppe von Siedlungen sehr traurigem Ursprungs eingereiht werden: im 2. Weltkrieg, als Rüstungsstandort der Dornier Werke und Aussenlager des Konzentrationslagers Dachau, wurde nach Kriegsende die vorhandene „Infrastruktur“ für die Aufnahme von Flüchtlingen genutzt, die Gemeinden im Eiltempo aufgebaut. Damit haben sie sich zu wichtigen Standorten entwickelt. So ähnlich wie in Neutraubling, Kaufbeuren-Neugablonz, Geretsried, Traunreut und Waldkraiburg – den sogenannten bayerischen Vertriebenengemeinden. Der Städtebau, der dabei Anwendung fand, ist dabei erstaunlich ähnlich. Und durchaus interessant. Zumindest als städtebauliche Entwicklung. Manche nennen es – etwas scheuklappig und unsachgemäß – Fehlentwicklung. Dabei lebten die Standorte auf und prägten auch das Nachkriegsbayern und dessen soziokulturelle Landschaft mit.
Und unser Juni-Haus stellt dabei eine typische Architektur zu diesem Städtebau dar. Seine sture Fassadengrafik, die Schmuckversatzstücke – wie aufgemalte Giebelchen und Gesimse – das Strukturvries und die breiten, das EG aufreißenden Schaufenster sind alles Motive in einer Mischung, die auch einem Venturi einfallen hätte können. Das Hutdach kam wahrscheinlich später, passt trotzdem.
All das sind Gestaltungselemente, mit denen andere bayerische Gemeinden immer noch reaktionistische Probleme haben. Und deshalb ist dieses Haus kein architektonisches Wunderwerk, aber als ein typisches Resultat aus dem angelaufenem Wirtschaftswunder der 60er (Anm.: Baujahr ungeprüft) wunderbar befreiend vom bayerischem „Gejodel“.

Eigentlich hat mir das Haus beim zufälligen Vorbereiradeln schlichtweg nur gefallen. Aber so einfach ist das wohl nicht. Die kurze Recherche auf Wikipedia hat gereicht, tatsächlich mehr erfahren zu müssen, als mir eigentlich lieb ist.

Thomas Gerstmeir, 29.06.2023